Und daher muss der Stadtraum öffentlicher Raum auch in dem Sinne sein, dass hier angesichts unterschiedlichster Lebenslagen stets Empathie und Respekt, Toleranz und Offenheit gelten – für mich wie für die Anderen.
KONVERGENZ STATT DIFFERENZ?
Wenn diese gesellschaftliche Diagnose halbwegs zutrifft, hilft die übliche Ignoranz und Arroganz der mobilen städtischen „Kosmopoliten“ nicht weiter, die die „Anderen“ oft für „Hinterwäldler“ halten. Hier muss verstanden werden, was statt Erfahrungen mit Couchsurfen und Couscous, mit Erasmus und E-Learning Erfahrungen mit Hartz 4-Bezug und Wohnungsnot, mit schlechter Ernährung und fehlendem Geld für die Monatskarten der Kinder bedeuten und bewirken können.
Diese soziale Spaltung im materiellen und kulturellen Leben der Städte wird häufig übersehen. Gerade in diesem so quirligen Urbanen Alltag, der fast unbemerkt viele ausschließt: über Cappuccino- oder Eintrittspreise, über Mode oder Ernährungsfragen, über Religions- oder Generationszugehörigkeiten. Denn auch eine lebendige Stadtgesellschaft bildet heute mehr denn je ein soziales Gebilde, in dem Ungleichheiten und Spannungen herrschen und dessen Strukturen und Regeln daher neu verhandelt werden müssen. Und daher muss der Stadtraum öffentlicher Raum auch in dem Sinne sein, dass hier angesichts unterschiedlichster Lebenslagen stets Empathie und Respekt, Toleranz und Offenheit gelten – für mich wie für die Anderen. Dass er für alle zugänglich und nutzbar ist, offen für unterschiedlichste Zwecke und unterschiedlichste Gruppen, schwellenfrei und kontrollfrei und angstfrei begehbar.
Deshalb dürfen in ihm nicht mehr die üblichen Bilder der Differenz vorherrschen, die das Unterschiedliche in Sprache, Religion, Herkunft oder Aussehen in den Vordergrund rücken. Vielmehr benötigen wir vermehrt Bilder der Konvergenz, die auch das Verbindende und Gemeinsame im Alltag sichtbar machen, wie es gerade die städtischen Kulturen immer hervorbringen: vom Musikgeschmack bis zur Esskultur, von der Mode bis zum Tattoo, vom Tanzen im Club bis zum „Public Viewing“ der Champions League.
Nur aus solcher Konvergenz und Mischung entsteht dann jene neue Form von Stadtwissen, jene spezifische „Civic Science“ – ein neuer und partizipativer Prozess des Wissenserwerbs, in dem sich Wissenselemente lokaler Geschichte, Topografie und Ökologie verbinden mit sozialem Insiderwissen über Wohnsituationen und Nachbarschaften wie mit politischen Diskussionen und Debatten der Zivilgesellschaft. Und dieses Stadtwissen will sich dann auch praktisch anwenden: Es erklärt sich kompetent und zuständig für urbane Umwelten wie Wohnwelten, für Mietspiegel wie Verkehrstarife, für den Umgang mit gemeinsamen Ressourcen vom Wasser bis zur Luft, von der Bildung bis zur Geschichte.
Sich darauf einzustellen und einzulassen: Das ist heute die große Aufgabe für kommunale Politik und Verwaltung. Nur so kann es ihr gelingen, die lokale Gesellschaft informierend, moderierend und aktivierend zusammenzuhalten. Also einer Stadtgesellschaft, die zunehmend weiter auseinanderdriftet, neue Themen, Bilder und Emotionen anzubieten, die verbinden und vergemeinschaften. Dies bedeutet heute: einerseits heterogene Bilder und multiple Perspektiven für die unterschiedlichen Gruppen und Strömungen einer Stadtgesellschaft zu eröffnen, also auch im lokalen Raum neue Selbst- und Fremdbilder zu entwerfen, in denen sich keineswegs alle einig sein müssen, in denen sich jedoch alle wiederfinden, mitgenommen, respektiert fühlen. Und andererseits und zugleich die aktive Suche nach lokalen Gemeinschaftsformen zu unterstützen, die sich im Kanon der Schlagworte von städtischem „Together“, von „Shared Economy“, von „urbaner Teilhabe“ ausdrückt: die Sehnsucht offenbar nach einer gemeinsamen Lebenswelt. […]
WOLFGANG KASCHUBA ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung {BIM) und Leiter der Abteilung „Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile“. Sein Artikel „Die Stadt, ein großes Selfie? – Urbanität zwischen Bühne und Beute“ ist in der „Aus Politik und Zeitgeschichte – Stadt“, Ausgabe 48/2017 erschienen.