Gespräch mit Pastor Ulfert Sterz

Der Sprung über die Elbe ging über uns hinweg.

Gespräch mit dem Pastor der Immanuelkirche Ulfert Sterz.

Wie kommt es zu der Zusammen­arbeit zwischen der Immanuel­kirche und dem Deutschen SchauSpielHaus, wie kommen Sie zu NEW HAMBURG?

Ulfert Sterz: Irgendwann kam ein Anruf von Björn Bicker und Malte Jelden, mit der Anfrage, ob sie sich hier mal umsehen könnten. Sie seien auf der Suche nach einem Ort für ein Stadtteilprojekt. Ich habe gesagt, klar, kommt vorbei. Ich sage eigentlich immer ja, wenn jemand vorbei kommen will – außer bei Rechtsradikalen, aber die haben zum Glück noch nie angefragt –, weil ich eigentlich alles, was von außen kommt, erst mal als Chance für die Veddel begreife. Ich hab nicht damit gerechnet, dass sich Björn, Malte und ihr Team für uns entscheiden. Die hatten ja schon ’zig andere, coolere Locations angeschaut. Aber wir haben uns sehr gut unterhalten, und ich glaube, es hat so ein bisschen gefunkt. Wir haben festgestellt, dass wir gemeinsame Vorstellungen haben, was Kirche – und auch Theater – in einem Melting­pot wie Hamburg heute sein kann. Und sein soll. Zwei Wochen später haben sie mich angerufen und gesagt, sie würden es am liebsten hier machen.

Was zeichnet denn die Veddel als Stadtteil aus?

Die Veddel ist eine Insel und von der Einwohnerzahl her eher ein größeres Dorf. Gleichzeitig liegt sie mitten im Stadtzentrum von Hamburg und ist sehr städtisch geprägt. Die Bebauung von 1927 ist aus einem Guss; eine Arbeitersiedlung von Fritz Schumacher, sehr hohe rote Klinkerbauten mit vielen kleinen Wohnungen. Das Zentrum besteht aus einer Schule – seinerzeit die modernste Hamburgs –, einem Kindergarten, unserer evangelischen Kirche, eingebettet in einen Park mit Spielplatzanlagen.

Eigentlich auch ein NEW HAMBURG …

Ja, eine tolle, utopische Anlage, die zum Wohnen einlädt. Gleichzeitig ist es der ärmste Stadtteil Hamburgs.

Als ich hier vor zweieinhalb Jahren angefangen habe, hatte ich eine solche Armut in Deutschland – inklusive DDR-Kindheit – noch nicht wahrgenommen. Wir haben einen sehr hohen Migrantenanteil, einen der höchsten in Hamburg und auch in Deutschland. Der Stadtteil ist kulturell bunt, religiös mehrheitlich muslimisch geprägt. Die Armut und ein bisschen auch das Gefühl, abseits und vergessen zu sein, führt dazu, dass sich die Gruppen hier separieren und dass es außer dem mit Bezirksamt-Mitteln finanzierten Stadteilbeirat keine Stimme nach außen, keine Lobby für die Veddel gibt. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, denen es die finanziellen Mittel irgendwie erlauben, oder die für ihre Kinder was anderes wollen, springen von der Veddel ab. Z.B. Kirchdorf gilt da als etwas Erstrebenswertes.

Was ist mit dem berühmten „Sprung über die Elbe“?

Der ging über uns hinweg. Außer dem IBA-Dock, wo die gut gekleideten Leute hingehen, Kaffee trinken, die Veddel wie einen Zoo bestaunen und wieder gehen, hat der Stadtteil kein eigentliches IBA-Projekt. Da kommt gleich wieder das Gefühl der Benachteiligung auf, das hier oft wie ein Hauch über der Insel liegt …
Interessant ist, dass sich mit der starken Gentrifizierung von Wilhelmsburg Nord auch die Veddel leicht verändert. Das fällt mir seit einem Jahr etwa auf, seither werden Studierende und alternativ gekleidete Menschen sichtbar. Da passiert was.

Wie wird diese Veränderung wahrgenommen?

Also, ich erlebe das als Chance, noch nicht als Verdrängung. Als ich hier ankam, zum Beispiel, war der Ton, der in dem kleinen Park und auf dem oft mit Glasscherben übersäten Spielplatz direkt vor unserem Kindergarten herrschte, oft noch ganz anders. Das war auch ein sehr rauer Ton. Es ging viel um Konkurrenz, um Durchsetzung. Mittlerweile sieht und hört man immer öfter Leute, die einen Streit schlichten, sich um andere kümmern und uns darauf hinweisen, wenn jemand Hilfe braucht. Das ist noch keine andere Veddel, aber das macht sich bemerkbar.

Wie ist die Situation Ihrer Kirchengemeinde?

Eine lebensfähige Gemeinde im klassischen Sinn gibt es nicht mehr. Das klingt hart. Auf dem Papier haben wir etwa 700 Gemeindemitglieder, von denen ich aber nur etwa 50 persönlich kenne. Wir haben am Anfang oft Briefe rausgeschickt und um Antwort gebeten, sogar Preise ausgelobt, da hatten wir Rückläufe von unter 1 %. Bei 850 Briefen also 8 Antworten, wobei zwei noch aus demselben Haushalt kamen. Weil auch der Kirchengemeinderat eher volkskirchlich geprägte Vorstellungen hatte, habe ich versucht, hier Volkskirche wieder aufleben zu lassen. Das ist misslungen. Volkskirche wird auch in Zukunft vermutlich nicht mehr funktionieren. Es gibt hier, weshalb auch immer, einen völligen Traditionsabbruch. Wenn man hier »Geh aus mein Herz« singt oder die Weihnachtsgeschichte liest, verändert sich kein Pulsschlag, man sieht kein Augenleuchten, nichts. Die traditionellen Texte, wenn man sie im Gottesdienst liest, sind deshalb eine Herausforderung. Die sind für viele Leute hier so unbekannt und neu, wie der aktuelle »Spiegel«.

Wie geht man damit als Pfarrer um?

Ich habe hier einige Leute kennengelernt, die Interesse haben an einem freundlichen Raum, in dem man sich entfalten kann und in dem man durchaus auch ethisch etwas für andere Menschen tun kann. Das sind gar keine Kirchenmitglieder oder sie sind sogar kirchenkritisch, mit eigenen, schlechten Erfahrungen. Ich habe gedacht, gut, das ist sicher nicht die einzige Zielgruppe, aber die, mit der ich erst einmal in Berührung kam. Wir haben dann zur Europameisterschaft letztes Jahr die Kirche bedingungslos für alle, die es interessiert, geöffnet. Haben Essen und Trinken mehr oder weniger verschenkt. Wir haben mit viel Vertrauensvorschuss Schlüssel aus der Hand gegeben, Zugang zu unserer Musikanlage und unserem Beamer ermöglicht und gehofft, dass sich Gruppen bilden, die das nutzen. Und es hat geklappt. Ein ganz zartes Pflänzchen – noch ganz klein –, aber dadurch habe ich dann wieder zwei, drei Leute kennengelernt. Leute, die „Kirche“ auch schon immer schwierig fanden, aber die angefangen haben, hier ein bisschen zu grillen oder auf ihren Instrumenten zu jammen. Oder die angefangen haben, Filme zu zeigen. Ich habe versucht
diese Gruppen zu unterstützen und habe auch in unserem Kirchenkreis dafür geworben.

War das ein Problem?

Nein, der Kirchenkreis Hamburg-Ost ist zum Glück sehr aufgeschlossen und sieht die Zeichen der Zeit, wie säkular und multikulturell unsere Welt inzwischen ist. Jetzt haben wir eigentlich jede Woche Kino und Musikveranstaltungen, es kommen Leute von außerhalb, und es entsteht einfach eine gute Stimmung. Wir liegen ganz zentral, in der Mitte dieser Insel, haben fast ein Mono­pol auf einen großen Raum mit annehmbarer Akustik – das ist für mich der Weg, diesem Stadtteil Entfaltungsmöglichkeiten zu schenken. Völlig bedingungslos, da braucht niemand eine Mitgliedschaft von irgendwas. Wir haben die Möglichkeit, etwas zu geben, und fragen nicht, was wir zurückbekommen. Mittlerweile sieht das auch der Kirchengemeinderat so.
Gleichzeitig ist die kirchliche Arbeit hier vor allem durch sozial­diakonische Arbeit geprägt. Wir bieten zweimal Essen an, wir haben hier die Tafel, eine Kleiderkammer, einen offenen Kinder- und Jugendtreff – das versuche ich natürlich auch zu bewahren und zu stärken, wo es geht. Die Nachfrage ist groß. Der Stadtteil – die Kirchengemeinde natürlich auch – ist völlig fremdfinanziert. Wir haben hier einen einzigen Super­markt mit halbem Sortiment und das entspricht auch unserer Kaufkraft …

Und jetzt soll die Immanuelkirche zum Zentrum von NEW HAMBURG werden.

Ja, das ist toll. Dieses Projekt ist für mich ein richtiger Höhepunkt. Das wird Spuren hinterlassen, und es wird auch von außen Blicke auf die Veddel ziehen, die dringend nötig sind.

 

Das Gespräch führte Christian Tschirner.